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Störsender

Die Wohnung eines Radiojournalisten wird durchsucht – wegen eines Links auf eine verbotene Website. Kampf gegen Linksextremismus oder ein Angriff auf die Pressefreiheit?

Von Markus Sehl

Durchsuchungen bei Radio Dreyeckland: Eine Aufnahmeleuchte im Studio von Radio Dreyeckland. Der Sender war 1977 der erste unabhängige Rundfunksender in Deutschland.
Eine Aufnahmeleuchte im Studio von Radio Dreyeckland. Der Sender war 1977 der erste unabhängige Rundfunksender in Deutschland. © Patrick Seeger/​pa/​dpa

Fabian Kienert hat es eilig. Am Morgen des 30. Juli 2022 sitzt er zu Hause an seinem Schreibtisch und tippt eine Meldung in seinen Laptop. Auf einer Antifa-Website hat er eine Nachricht entdeckt. Es geht um die verbotene Online-Plattform Linksunten Indymedia, genauer: um das Ermittlungsverfahren gegen deren mutmaßliche Hintermänner. Das musste die Staatsanwaltschaft einstellen, aus Mangel an Beweisen. Eine wichtige Neuigkeit, nicht nur für die linke Szene in Freiburg. Deshalb habe er schnell sein wollen, erzählt Kienert heute.

Linke Medienarbeit ist nicht kriminell!

Ermittlungsverfahren nach Indymedia Linksunten Verbot wegen „Bildung krimineller Vereinigung“ eingestellt

Es ist 11.04 Uhr, als diese Meldung auf der Website des linksalternativen Freiburger Senders Radio Dreyeckland online geht. Darunter steht das Kürzel FK, Fabian Kienert. Im letzten Satz hat er noch einen Link eingebaut, der führt zu einem digitalen Archiv von Linksunten. Da habe er sich keine Gedanken gemacht, sagt Kienert: „Jeder sollte sich ein Bild machen können.“

Ein halbes Jahr später, am frühen Morgen des 17. Januar 2023, hämmern Polizisten an Kienerts Wohnungstür. Der schreckt aus dem Schlaf hoch, er habe erst an ein Missverständnis gedacht, erzählt er. Dann hört er seinen Namen. Und: „Kriminalpolizei!“ Die Beamten fotografieren die Zimmer seiner Wohnung, nehmen den schwarzen Laptop mit, dazu sein Smartphone und USB-Sticks. Kienert sagt, er habe es nicht fassen können: ein Polizeitrupp in der eigenen Wohnung, wegen einer Verlinkung? Newsletter

https://linksunten.indymedia.org/ – das sind die 33 Zeichen, die aus dem Journalisten Fabian Kienert einen Straftäter gemacht haben sollen. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe wirft ihm vor, mit der Verlinkung habe er eine verbotene Vereinigung unterstützt.

Inzwischen beschäftigt das Verfahren mehrere Instanzen der Justiz in Baden-Württemberg und hat sogar das Bundesverfassungsgericht erreicht. Denn im Kern geht es um Fragen, die fundamental sind für eine Demokratie: Ist es verhältnismäßig, die Polizei wegen einer Verlinkung unter einer kurzen Meldung in die Privatwohnung eines Redakteurs zu schicken? Rechtfertigt der Kampf gegen den Linksextremismus ein derart massives Vorgehen gegen Journalisten? Kurz: Wie weit reicht die Pressefreiheit?

An jenem Morgen im Januar 2023 findet parallel zu dem Einsatz bei Kienert auch eine Durchsuchung beim Geschäftsführer des Radiosenders statt, er ist verantwortlich nach dem Presserecht. Dann fahren die Beamten zur Redaktion, auch dafür haben sie einen Durchsuchungsbeschluss. Der lässt zu, Daten in der Redaktion zu beschlagnahmen, womit laut Beschluss vor allem aufgeklärt werden soll, dass es Kienert war, der die Meldung verfasst hat. Nur: Der räumt das noch während der Durchsuchung seiner Wohnung ein. Seine Anwältin kann am Telefon die Razzia in der Redaktion stoppen.

Gegen Linksunten Indymedia ging das Bundesinnenministerium (BMI) schon im August 2017 vor, nach den Krawallen beim Hamburger G20-Gipfel und nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière sprach von der „einflussreichsten Internetplattform gewaltbereiter Linksextremisten in Deutschland“ und ließ sie verbieten. Seit der Gründung im Jahr 2009, so begründete das BMI, werde auf der Plattform öffentlich zur Gewalt gegen Polizisten und politische Gegner aufgerufen. Beiträge konnte dort jeder veröffentlichen, ein Team moderierte sie.

Das Verbot besteht auch nach den gescheiterten Ermittlungen, alle Klagen dagegen sind gescheitert. Kritiker sagen, der Anteil strafbarer Inhalte auf der Seite sei gering gewesen, umso höher deren Wert für Recherche und Berichterstattung, auch über rechte Strukturen. Im Frühjahr 2020 tauchte im Netz plötzlich ein Archiv von Linksunten auf: schätzungsweise 200.000 Beiträge, dazu Zehntausende Kommentare und Fotos. Ein digitales Andenken? Eine Provokation?

„Wir sind nicht mehr so stachelig“

Staatsanwalt Manuel G. (links) bei der Durchsuchung der Redaktionsräume in Freiburg © Abb. (Bildschirmfoto): RDL

Am Vormittag der Durchsuchung nimmt am Redaktionstisch von Radio Dreyeckland auch ein Mann Platz, der extra aus Karlsruhe angereist ist: Staatsanwalt Manuel G., Abteilung V, zuständig für Staatsschutzdelikte. Er ist kaum älter als Kienert, die beiden begegnen sich zum ersten Mal. Unaufgeregt sei ihm der Staatsanwalt erschienen, erzählt Kienert, der Jurist habe gesagt, das sei eine spannende rechtliche Frage, die da jetzt geklärt werden müsse. Ein Foto hält die Szene fest: G. sitzt am Tisch. Hellblaues Hemd, akkurater Haarschnitt, die Arme verschränkt. Er beobachtet einen Polizisten, der gerade etwas notiert.

Schon seit 2017 führte G. das Verfahren gegen die mutmaßlichen Betreiber von Linksunten. Der Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Man könnte sagen, G. ist Mister Linksunten bei der Staatsanwaltschaft in Baden-Württemberg. Nach fünf Jahren musste er das Verfahren aus Mangel an Beweisen einstellen. Das war der Auslöser für Kienerts Meldung. Könnte es sein, dass Staatsanwalt G. durch die Razzia beim Radio doch noch an Beweise kommen will? Sieht er das alternative Radio als Schwachstelle in der hartnäckigen Abschirmung der Linksextremen?

G. selbst äußert sich nicht, die Pressestelle der Staatsanwaltschaft verweist auf das laufende Verfahren. Kienerts Anwältin, Angela Furmaniak, beschreibt G. als „beflissen und engagiert“. Fabian Kienert glaubt nicht an einen Schachzug, eher an Übereifer. Inzwischen umfasst die Ermittlungsakte gegen Kienert mehr als 2.000 Seiten. Für einen Link aus 33 Zeichen.

Losgetreten hat das Verfahren offenbar ein Staatsschutzermittler der Freiburger Polizei. Drei Tage nachdem die Meldung bei Radio Dreyeckland online gegangen war, rief er Staatsanwalt G. in Karlsruhe an und machte ihn auf den Artikel aufmerksam. Das geht aus einem Aktenvermerk hervor. Der Polizist ermittelt seit Jahren zur linksextremen Szene in Freiburg. Die revanchierte sich, wenig zimperlich, indem sie seinen Klarnamen samt Fotos auf Linksunten veröffentlichte.

Am Studio von Radio Dreyeckland klettern struppige Ranken die Fassade hoch, Fahrräder mit Kinderanhängern parken vor der Eingangstür. Nebenan gibt es eine Feministische Geschichtswerkstatt, auch der Chaos Computer Club und der Verein Rosa Hilfe treffen sich hier. Grethergelände nennt sich dieser einstige Fabrikhof, er liegt mitten in der Freiburger Innenstadt, zwischen Architektenbüros und Handelskammer, zwischen einem Multiplex-Kino und dem verspiegelten Neubau der Uni-Bibliothek. Seit den 1980ern hat auch Radio Dreyeckland hier seine Räume.

Fabian Kienert arbeitet seit 15 Jahren als Redakteur für den Sender, er schreibt über Migration, Miete, Lokalpolitik. An der Wand hängt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Link_Extremist“. Am Redaktionstisch klappt Kienert seinen schwarzen Laptop auf. Drei Tage nach der Durchsuchung hat er ihn mit seinen anderen Geräten zurückbekommen, nachdem das Landeskriminalamt seine kompletten Daten kopiert hatte, samt Redaktionsmails.

Radio Dreyeckland, kurz RDL, war 1977 das erste unabhängige Radio in Deutschland, anfangs sendete man als illegaler Piratensender. Seine Redakteurinnen und Redakteure arbeiten ehrenamtlich, einige für ein kleines Honorar. „Wir wollen in Freiburg eine Gegenöffentlichkeit anbieten, Stimmen aus sozialen Bewegungen hörbar machen“, sagt Kienert. Das Programm reicht von politischen Nachrichten bis FLINTA*funk, der Sender finanziert sich heute aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen, zeitweise aus EU-Projektfördermitteln und teils sogar aus Rundfunkgebühren. Kienert sagt: „Wir sind nicht mehr so stachelig.“

Oder doch?

Nach der Durchsuchung wehrt sich Fabian Kienert vor Gericht. Er sieht seine Grundrechte verletzt, allen voran die Presse- und Rundfunkfreiheit, aber auch das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Und zunächst hat er Erfolg. Das Landgericht Karlsruhe hält die Durchsuchung für unverhältnismäßig, und es durchkreuzt auch den Plan der Staatsanwaltschaft, Kienert anzuklagen. Das lässt das Landgericht nicht zu. Das Setzen des Links sei keine strafbare Handlung, sondern kritische Pressearbeit. Das Gericht erinnert an andere Berichte zu Linksunten, erschienen in der taz oder bei ZEIT ONLINE. Auch dort wurde jeweils ein Link zu dem Archiv gesetzt. Überhaupt sei nicht erkennbar, dass noch eine Vereinigung im Namen von Linksunten Indymedia existiere, schreiben die Richter. Wo es keine verbotene Vereinigung gibt, kann sie auch niemand strafbar unterstützen. Die Entscheidung des Landgerichts ist mit 40 Seiten ungewöhnlich lang.

„Das Archiv scheint viele zu stören“

Die Redaktion des linksalternativen Senders hat ihren Sitz auf einem ehemaligen Fabrikgelände in Freiburg. © Philipp von Ditfurth/​pa/​dpa

Über dem Landgericht steht das Oberlandesgericht. Und das schätzt den Fall ganz anders ein. Es hält die Durchsuchung für verhältnismäßig, Kienerts Text sei kein Journalismus, sondern „Propaganda“ – und das Archiv ein strafbares „Denkmal“. Es sei „wahrscheinlich“, dass die verbotene Vereinigung dahinter weiter existiert habe. Den Vergleich mit der Verlinkung durch andere Medien lassen die Richter nicht gelten: Die hätten „sachlich über das Gesamtgeschehen informiert“. Seinen Beschluss stellt das Oberlandesgericht über eine Datenbank ins Netz, das Landgericht zieht wenig später nach. Das ist bemerkenswert: Entscheiden Gerichte während laufender Ermittlungen, ist das eigentlich noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Aus solchen Beschlüssen zu zitieren, ist Journalisten sogar strafrechtlich verboten. Offenbar kam es beiden Gerichten darauf an, ihre Argumente öffentlich zu machen.

Verfahren gegen Journalisten sind in Deutschland selten, und sie sind besonders sensibel. 2015 lösten die Ermittlungen wegen Landesverrats gegen die Plattform netzpolitik.org eine Staatsaffäre aus. Der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas stand wochenlang in der Kritik, am Ende musste Generalbundesanwalt Harald Range gehen.

Auch ein Verbot bestimmter Medien ist nicht ohne Weiteres möglich. Als das BMI zwei Jahre später gegen Linksunten vorging, erklärte es die Betreibergruppe kurzerhand zu einem linksextremen Verein – um diesen dann verbieten zu können.

Einer, den Verfassungsschutz und Polizei hinter der Plattform Linksunten vermuten, wartet an einer Hausecke am Freiburger Schwabentor. Er trägt einen Wollmantel, einen Outdoorrucksack und feste Lederschuhe, stellt sich unter seinem echten Vornamen vor, sagt, er sei „Programmierer, Journalist, Anarchist“; für diesen Text wünscht er sich das Pseudonym Nicola. Es nieselt, er will über den Schlossberg spazieren. Und vor allem erzählen. Nicola spricht selbst wie die lebendig gewordene Linksunten-Plattform, hangelt sich von der Punk-Hausbesetzung zum observierten Nazi-Treffen, von einem Namen zum nächsten Schlagwort. Springt von Linksunten-Beitrag zu Linksunten-Beitrag, erinnert sich an einzelne Kommentare unter den Artikeln. Castor-Transport, Burschenschaftlerabend, enttarnte V-Leute.

Und die Gewaltaufrufe, Anleitungen für Molotowcocktails? Nicola winkt ab. Wurde alles moderiert und in den Kontext gesetzt. Schnell geht es weiter: In diesen Tagen beschäftigt ihn die Recherche zum AfD-Treffen in Potsdam. Er sagt, er finde es skandalös, dass in solchen Zeiten eine „antifaschistische Plattform“ wie Linksunten verboten sei.

Spaziert auf dem Waldweg jemand vorbei, dann wartet Nicola kurz, ehe er weiterspricht. „Paranoid bin ich nicht, aber vorsichtig“, sagt er. Der Dreyeckland-Fall hat auch ihn eingeholt, im Sommer 2023 durchsuchten Polizisten seine Wohnung. „Die haben alles mitgenommen, was einen Stecker hat“, sagt er. Es klingt abgeklärt. Die Behörden hatten ihn schon 2017 im Visier. Samt Beschattung, versteckten Kameras, Razzia, erzählt er. Beweisen konnten die Ermittler nie, dass er hinter Linksunten stecken soll, auch weil sie seine Laptops und Smartphones nicht entschlüsseln konnten. Ein Detail, von dem Nicola genüsslich erzählt. Das Verfahren wurde eingestellt. Nicola sagt, er habe gedacht, die Sache sei damit erledigt.

Als der Radio-Dreyeckland-Fall nun ans Oberlandesgericht kam, fragten die Richter: Gibt es eigentlich noch die Gruppe, die Linksunten als Archiv betreibt? Für die Staatsanwaltschaft war das der Anstoß für die neue Durchsuchung. Dass sie diesmal etwas entschlüsseln können, glaubt Nicola nicht. Dass Linksunten das eigentliche Ziel der Durchsuchung bei Radio Dreyeckland war, glaubt er auch nicht. „Aber das Archiv scheint viele zu stören, denn es vergisst nichts.“

Weil das Verfahren gegen Fabian Kienert von grundsätzlicher Bedeutung ist, unterstützen ihn die Juristen der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“. Zusammen mit der Anwältin Angela Furmaniak haben sie den Fall vors Bundesverfassungsgericht gebracht. Allerdings werden die Richter in Karlsruhe, wenn überhaupt, erst in einigen Jahren über die Beschwerde entscheiden. Vorher steht das Strafverfahren an, in dem der Staatsanwalt Manuel G. mittlerweile einen Teilerfolg errungen hat: Im April wird seine Anklage gegen Kienert vor dem Landgericht Karlsruhe verhandelt, so hat es das Oberlandesgericht angeordnet. Kienert und Staatsanwalt Manuel G. werden dabei ausgerechnet auf die Richter der 5. Großen Strafkammer treffen, die das Verfahren eigentlich gar nicht eröffnen wollten. Eine hübsche juristische Pointe.

Laut Gesetz drohen dem Redakteur bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldstrafe. Selbst wenn er verurteilt würde, wird er für den Link wohl kaum ins Gefängnis müssen. Und bei einem Freispruch? Dürfte Manuel G. wohl in Revision gehen. Neben Landgericht, Oberlandesgericht und Bundesverfassungsgericht würde sich mit Kienerts 33-Zeichen-Link dann auch noch der Bundesgerichtshof befassen.

Die Meldung, über die gestritten wird, steht derweil weiter online, leicht zu finden. Klickt man auf den Link im letzten Satz, öffnet sich eine neue Website, und man landet an dem Ort, den es eigentlich gar nicht geben dürfte.